Ästhetik wird seit Kant1 als die Wissenschaft der Kunst verstanden. Nur 40 Jahre vor ihm hatte A.G. Baumgarten1 sein Werk „Aesthetica“2 veröffentlicht, mit dem er zum Begründer der Ästhetik als Wissenschaft wurde. Doch Baumgarten geht es nicht in erster Linie um Kunst. Ausgehend von der griechischen Wortbedeutung „die Wahrnehmung betreffend“ schreibt er eine Philosophie der sinnlichen Wahrnehmung, die er als Ergänzung zum mathematischen und logisch-analytischen Denken versteht3. Letztere sind bis heute Erkenntnisgrundlagen von Wissenschaft und Technik. Zugrunde liegt ihnen eine bestimmte Erkenntnishaltung, die weit in die Bewusstseinsgeschichte der Menschheit zurückreicht.
Heute sucht Wissenschaft nicht mehr nach Wahrheiten sondern nach Erklärungsmodellen. Ihre Theorien gelten so lange bis sie durch effektivere ersetzt werden. Bei ihrer Bildung geht man von Axiomen (Grundannahmen) aus, die man als Hypothesen setzt. Von ihnen leitet man dann in logisch-analytischen Schritten das ganze System ab. Das Grundmodell dieser Vorgehensweise gibt die Mathematik
Geht man nur wenige Jahrhunderte zurück, so stehen an Stelle begrenzt gültiger Hypothesen ewige Grundprinzipien wie Gott, das Feuer oder ein absolutes Sein. Das beginnt im 7. Jahrhundert v. Chr. und geht durch das ganze Mittelalter. Selbst Kant kann trotz seiner kritischen Rationalität eine Welt ewiger Wahrheiten noch nicht aufgeben und löst den Zwiespalt, indem er ein Reich der „Dinge an sich“ erfindet, das dem menschlichen Erkenntnisvermögen unzugänglich sei.
Dem geht voraus eine vorwissenschaftliche Ära, in der ewige Wahrheiten in Inspirationen aus einer göttlichen Wesenswelt offenbart wurden. Auf solche Weise sind alle Religionen entstanden. Davor kommt man in eine mythische Urzeit - beschrieben als Goldenes Zeitalter – in der eine kindliche Menschheit noch unmittelbar im Verkehr mit jenen Wesen lebte, die in allem Dasein als deren Schöpfer wirken.
Vom unmittelbaren Miterleben der Taten geistiger Wesen steigt der Mensch in eine fortschreitende Entfremdung herab, bis Geistiges sich nur als schattenhafte Gedanken in seinem Gehirn spiegelt.
Vor diesem Hintergrund mag man die Bedeutung von Baumgartens „Aesthetica“ erst richtig einschätzen. Neben diesen Urstrom der Erkenntnis setzt er gleichbedeutend eine Wissenschaft, die gleichsam „von unten“ von der unmittelbaren Sinneserfahrung ausgeht. Der Mensch beginnt ganz neu an dem Punkt, an dem er steht.
Die erste Veröffentlichung der „Aesthetica“ liegt 1750, zwischen Goethes4 und Schillers5 Geburt. Goethes Geistesart kann man in diesem Sinne eine rein ästhetische nennen. Er geht von den Phänomenen aus, wie sie sich der Erfahrung darbieten und lässt sie so sprechen, dass die ihnen zugrunde liegende Idee offenbar wird. Er schaut im Sinnlichen das Wirkende, das es hervorgebracht hat. Das ist in der Geistesgeschichte der Menschheit tatsächlich ein neuer Schritt.
Goethe anerkennt als einzige Instanz für Erkenntnis die eigene Erfahrung, alles Spekulative ist ihm suspekt. Zugleich ist er so wahrhaftig, dass er keine willkürlichen Grenzen gelten lässt. Eine innere, seelische Erfahrung ist ihm so real wie eine durch die Sinne gemachte. Daher spricht er völlig unbefangen von der sinnlich-sittlichen Wirkung der Farben und beschreibt beide gleichermaßen exakt. Weil er keine Theorien bildet, die ihm den Blick verstellen, sprechen die Naturerscheinungen von ihrem eigenen Werden und den darin wirkenden Ideen. Goethe nennt sie Urpflanze, Urtier, Urphänomene.
Als erster hat Schiller die Bedeutung von Goethes Geistesart erkannt und in seinem berühmt gewordenen Geburtstagsbrief6 charakterisiert.
Ob Goethe Baumgarten gelesen hat, ist mir nicht bekannt. Schiller jedoch hat sich mit ihm beschäftigt7, bevor er an die Ausarbeitung seiner „Briefe zur ästhetischen Erziehung des Menschen8“ ging, was ein Brief an den Freund Körner bezeugt9. Vielfach hat man Kants Einfluss auf Schiller untersucht. Mir scheint, dass beide Philosophen auf die ästhetischen Briefe Wirkung hatten.
Schiller diagnostiziert im Menschen zwei Grundtriebe: Der eine, den er Formtrieb nennt, führt in die Welt der Ideen, die aller Wirklichkeit als formendes Prinzip zugrunde liegt, der andere, genannt Stofftrieb, bezieht sich auf die materielle Welt. Beiden Trieben ist der Mensch unterworfen, beide Reiche wirken mit logischer oder mit materieller Notwendigkeit.
Doch dann geht Schillers Genius weit über beide Philosophen hinaus. In den beschriebenen Grundtrieben hat der Mensch als selbstbestimmtes Individuum keinen Platz. Doch für Schiller ist Freiheit die Qualität des Menschseins schlechthin. Diese kann der Mensch nur in einem dritten Reich verwirklichen, das es nicht gibt, sondern das er durch eigene Tätigkeit hervorbringt. Es ist das Reich der Kunst im umfassenden Sinn. Sie hat Anteil an der Ideenwelt, insofern diese im Menschen als seine eigenen Ideen lebt, und sie hat Anteil an der sinnlichen Welt, in der der Mensch seine Ideen verwirklicht. Der Tätigkeit, die dieses Reich schafft, liegt ein dritter Trieb zugrunde, den Schiller Spieltrieb nennt. Er hebt nicht die beiden anderen auf, er erscheint, wenn diese sich die Waage halten. Dadurch gleichen sich die Notwendigkeiten gegenseitig aus und Freiheit wird möglich. Schiller kann sagen:„Der Mensch ist nur da ganz Mensch, wo er spielt“10.
Ein Produkt des Spieltriebes wird nach den Gesetzen der Ideenwelt gebildet, denn aus ihr stammt seine Idee, sein Stoff hingegen wird in einer Weise behandelt, dass die Idee nirgends zwingend erscheint und den Eigencharakter des Stoffes unterdrückt. Die Form wirkt wie dessen eigenes, ihm gemäßes Wesen. Das sind für Schiller die Merkmale der Schönheit.
Überwiegt jedoch einer der polaren Grundtriebe den andern, verfällt der Mensch in dessen Abhängigkeit. Er ist ein Wilder, behält der Stofftrieb das Übergewicht, er wird zum Barbaren, wenn das Ideelle die sinnliche Wirklichkeit überwältigt.
Goethe beschreibt, dass man, vorgedrungen zur Urpflanze, aus ihr unendlich neue Pflanzen schaffen könne, die genauso notwendig und wahr seien wie die vorhandenen. Er kann das sagen, weil mit der Urpflanze die schöpferisch tätige Wesenheit in der Natur selbst erfasst ist. Alle Einzelerscheinungen an einer Pflanze sind Ergebnis und Ausdruck ihrer Idee. Bleibt der Mensch nicht bei der Wahrnehmung sinnlicher Phänomene stehen, so kann er erkennend immer tiefer in einen Seinsbereich eindringen, in dem Ideen sich als Wesen zeigen, die Wirklichkeit hervorbringen.
Wie anders der Ansatz der Gentechnik: Ausgehend von der Theorie der Vererbung durch Gene bleibt der Blick auf dem Stoff haften und zerlegt diesen in immer kleinere Einheiten. Diesen Teilchen schreibt man die Wirkung zu, Erscheinungsformen hervorzubringen, obwohl die Frage der Formentstehung bis heute in der Genetik ungelöst ist. Da alle Eigenschaften als zufällig entstanden gelten, gibt es folglich kein Argument, die Neukombination von Merkmalen zu verbieten. Warum sollte ein Eichbaum keine Äpfel tragen? Die Goetheanistische Beobachtung zeigt, dass Äpfel dem Eichbaum wesensfremd sind, und keine in ihm liegenden Kräfte Früchte dieser Art formen könnten.
Ebenso wesensfremd ist es, wenn wir unsere Vorstellungen einer Krankheitsresistenz durch die Implantation artfremder Gene einer Pflanze aufzwingen. Im Sinne Schillers ist das eine Barbarei.
Die Goetheanistische Methodik, wie sie auch im Keyserlingk-Institut11 gepflegt wird, ist nicht traditionell. Sie ist eine Wissenschaft der Zukunft, die immer tiefer eindringt in die Wesenswelt der Natur. Sie zwingt ihr nicht die eigenen, oft egoistisch motivierten Vorstellungen auf, sondern lauscht ihr ab, was sie ihrem Wesen gemäß weiterentwickelt. Ertrag, Gesundheit, Nahrungsqualität müssen den Pflanzen nicht abgetrotzt werden, sie stellen sich ein, wenn man mit dem arbeitet, was als Schaffendes in den Pflanzen selbst wirkt. Dann entsteht das, was Schiller Schönheit nennt. In solchem Sinn ist Ästhetik die dem Menschen und der Natur gemäße Form der Erkenntnis und Technik.
Erschienen 2005 in Mitteilungen aus der Arbeit des Keyserlingk-Instituts Nr. 19
1 Immanuel Kant, Kritik der Urteilskraft, 1790
2 Alexander Gottlieb Baumgarten, Aesthetica, 1750, 1758
3 H. R. Schweizer hat den heute nahezu vergessenen Baumgarten und dessen ursprünglichen Sinn der Ästhetik beschrieben: „..doch der gedankliche Impuls drängt ihn dazu, nicht in erster Linie die Bedeutung des künstlerischen Schaffens und des rhetorischen Ausdrucks, sondern das Eigenrecht der <sinnlichen Erkenntnis> zur Geltung zu bringen. Baumgarten hält sich damit genau an die Grundbedeutung des Wortes <ästhetisch>: es stammt aus dem Griechischen und heißt >die Wahrnehmung betreffend>, <für die Sinne fassbar>. Seine Ästhetik ist also im Kern eine Philosophie der sinnlichen Wahrnehmung, und sie nimmt diese Wahrnehmung, die Aktivität unserer Sinne, nicht nur als äußeren Reiz, sondern als eine besondere Art der Erkenntnis ernst. Sie wird daher als <Wissenschaft> oder <Theorie der sinnlichen Erkenntnis> definiert. Die philosophische Ästhetik grenzt sich damit gegen das mathematische und das logische Denken ab..“
4 Johann Wolfgang von Goethe, geb. 28.8.1749
5 Friedrich von Schiller, geb. 10.11.1759
6 In dem Geburtstagsbrief an Goethe vom 23. August 1794 schreibt Schiller:
„..Sie suchen das Notwendige der Natur, aber Sie suchen es auf dem schwersten Wege, vor welchem jede schwächere Kraft sich wohl hüten wird. Sie nehmen die ganze Natur zusammen, um über das Einzelne Licht zu bekommen; in der Allheit ihrer Erscheinungsarten suchen Sie den Erklärungsgrund für das Individuum auf.
..diese logische Richtung, welche der Geist bei der Relfexion zu nehmen genötiget ist, verträgt sich nicht wohl mit der ästhetischen, durch welche allein er bildet. Sie hatten also eine Arbeit mehr, denn so wie Sie von der Anschauung zur Abstraktion übergingen, so mussten Sie nun rückwärts Begriffe wieder in Intuitionen umsetzen und Gedanken in Gefühle verwandeln, weil nur durch diese das Genie hervorbringen kann.“
7 Am 25. Mai 1792 schreibt Schiller aus Jena an seinen Freund Gottfried Körner über die Vorbereitungen zu den ästhetischen Abhandlungen: „An die ästhetischen Briefe habe ich, wie Du leicht begreifen wirst, jetzt noch nicht kommen können, aber ich lese in dieser Absicht Kants „Urteilskraft“ wieder...Baumgarten will ich auch noch vorher lesen.“
8 Schiller, Briefe zur ästhetischen Erziehung des Menschen. Sie werden 1795 in den Horen zum ersten Mal veröffentlicht.
9 Schiller, Briefe in zwei Bänden, Aufbau Verlag, Berlin und Weimar, 1982, Bd. 1: Brief an Gottfried Körner, Jena, 25. Mai 1792
10 Schiller, Briefe zur ästhetischen Erziehung des Menschen, 15. Brief
11 Keyserlingk-Institut für Saatgutforschung seit 1987, Rimpertsweilerhof, D-88682 Salem, Email: saatgut@t-online.de