Im Herbst 2014 hatte ich die Gelegenheit, die älteste Genbank der Welt, das Wawilow-Institut in St. Petersburg, zum zweiten Mal zu besuchen. Das verdanke ich Frau Professor Suluchan Temirbekowa, der ehemaligen Leiterin der Außenstelle in Michnewo bei Moskau, mit der das Keyserlingk-Institut seit vielen Jahren einen wissenschaftlichen Austausch pflegt.
ken.Ein Gespräch mit dem Direktor des Instituts Prof. Nikolai Dschubenko und eine Führung mit leitenden Mitarbeitern durch die beiden Gebäude zeigten nicht nur die große Treue zum Erbe Wawilows in diesen altehrwürdigen Räumen, sie offenbarten auch, wie man mit den eher bescheidenen Mitteln und viel Fantasie versucht, die unglaublichen Schätze auf moderne Art zu schützen, zu erhalten und die für die Zukunft so wichtige Forschungsarbeit zu leisten. Ich möchte mich auch an dieser Stelle bei allen noch einmal auf das herzlichste bedanken.
Wawilow-Institut in St. Petersburg
Mitten im Zentrum von St. Petersburg säumen zwei spiegelgleiche Gebäude aus dem 19. Jahrhundert den Isaakplatz, an dessen Stirnseite die mächtige Isaakkathedrale, am anderen Ende das Denkmal Nikolaus I stehen. Hier liegt der Ursprung der Bemühungen um die Erhaltung der Nutzpflanzenvielfalt, das Wawilow-Institut. Es war die erste Genbank der Welt.
Schon zur Zeit des Zaren Nikolaus II wurden Samen und Pflanzen aus dem gesamten großrussischen Reich gesammelt, untersucht und aufbewahrt, zunächst eher neben der eigentlichen Arbeit und praktisch ohne Mittel. Der Botaniker Alexander F. Batalin war der erste, der sich um die Nutzpflanzen bemühte. Durch seine Anstrengungen wurde schließlich vom Wissenschaftsrat der Landwirtschaftsuniversität ein Büro für angewandte Botanik eingerichtet, der Vorläufer des heutigen N.I.Wawilow Instituts für Pflanzengenetische Ressourcen. Als Robert E. Regel Direktor des Büros für Angewandte Botanik wurde, stellte er die Arbeit auf eine rein wissenschaftliche Basis und führte systematisch Nutzpflanzensammlungen durch. Er erwirkte finanzielle Unterstützung durch den Staat und eine Erweiterung des Mitarbeiterstabes. Selbst war er Spezialist für Gerste und legte eine große Sammlung von Varietäten an.
Die entscheidende Entwicklung erfolgte unter seinem Mitarbeiter und Nachfolger Nikolai I. Wawilow. Dessen Leben ist von der Entwicklung des Wawilow-Instituts während der Zeit seiner Mitarbeit nicht zu trennen. Deswegen soll in einem folgenden Artikel das Wichtigste aus Wawilows Biografie dargestellt werden. Um unnötige Wieder- holungen zu vermeiden, wird diese Zeit deswegen hier nur sehr knapp dargestellt.
Durch zahllose Expeditionen in alle Erdteile, auf denen Wawilow in 64 Ländern selbst über 200.000 Samen und Pflanzen sammelte, wuchs das später nach ihm benannte Wawilow-Institut zur weltweit bedeutendsten Genbank für Nutzpflanzen. Schon damals bemerkte Wawilow, wie schnell die Vielfalt abnahm, so dass er durch seine Sammlungen möglichst viel für die Menschheit retten wollte. Heute sind etwa 90 % der eingela-gerten Nutzpflanzen am Ursprungsort ausgestorben und nur noch hier vorhanden. Ein Beispiel dafür ist die Alblinse, die durch eine Probe aus dem Wawilow-Institut heute auf der Schwäbischen Alb wieder kultiviert werden kann. Das Forbes-Institut schätzt den Wert der Sammlungen auf über 8 Billionen Dollar, das ist mehr als der Staatshaushalt Russlands und der USA zusammen.
Schon Regel hatte die theoretische botanische Arbeit mit der praktischen verbunden. Dieses Konzept behielt Wawilow bei und erweiterte noch die Untersuchungsbereiche. Darin unterschied sich das Wawilow-Institut von den anderen entsprechenden Institutionen in der Welt.
Wawilow fand eine erbliche Bedingtheit für Krankheitsresistenzen bei Pflanzen. Diese Arbeit machte ihn berühmt und war der Anfang seiner Forschungen auf dem Gebiet der Genetik, wo er bald zu einem der bedeutendsten Vertreter wurde. Er entdeckte, dass es geografische Zentren der Biodiversität gibt, von denen die Vielfalt ihren Ausgang genommen haben muss. Acht solche Zentren lokalisierte er und besuchte selbst eine Reihe davon. Des weiteren beschrieb er das Gesetz der homologen Reihen. Bestimmte Formvariationen einer Art lassen sich analog auch in anderen Arten finden. Mit Hilfe dieser Gesetze konnte er gezielt nach Varietäten suchen, die bis dahin unbekannt waren.
Unter Wawilows Ägide errang das Institut internationale Geltung. Während des Ersten Weltkrieges und der russischen Revolution arbeitete das Institut weiter. Wawilow selbst war kriegsuntauglich. Um Politik kümmerte er sich nicht, genoss aber die Unterstützung Lenins. Russlandweit waren Außenstellen des Instituts hinzugekommen, wo unter den unterschiedlichsten klimatischen Bedingungen Aussaatversuche und Regeneration des Saatgutes vorgenommen wurden. Ziel der Arbeit war vom ersten Beginn an, alles dafür zu tun, dass sich die Hungerkatastrophen der Vergangenheit nicht mehr wiederholten. Dazu wollte Wawilow Sorten für den Anbau zur Verfügung stellen, die möglichst ertragreich und gesund waren, und die mit den unterschiedlichen Anforderungen durch Boden und Klima auskommen konnten.
Das Verhältnis Wawilows zur Regierung änderte sich grundlegend unter der Herrschaft Stalins. Durch die Zwangskollektivierung und Ausrottung des Bauernstandes war es zu mehreren großen Hungerkatastrophen in der Sowjetunion gekommen. Stalin verlangte von den Wissenschaftlern des Instituts, dass sie innerhalb kürzester Frist die Produktivität der Landwirtschaft erhöhen sollten. Trofim Lyssenko, ein Züchter aus Odessa, behauptete entgegen aller Vernunft, das von Stalin erwartete Wunder vollbringen zu können. Er vertrat eine auf de Lamarck fußende Theorie, die bestens in Stalins Ideologie passte: Man könne alle Lebewesen, egal ob Mensch, Tier oder Pflanze durch „Umerziehung“ zu einer Veränderung ihrer Eigenschaften zwingen. So müsse man beispielsweise nur die richtigen Stresssituationen schaffen, dass aus einem Sommerweizen ein Winterweizen würde. Die Forscher des Wawilow-Instituts führten eigene Versuchsreihen zur Vernalisation durch, widerlegten dabei aber Lyssenkos Versuche. In einer öffentlichen Rede unter Stalins Anwesenheit griff Lyssenko sie seinerseits heftig an, sagte den „Genetikern“ und „Idealisten“ den Kampf an und nannte sie Volksverräter, wobei Stalin ihn öffentlich beglückwünschte.
In der Folgezeit kam es zu vermehrten Säuberungen gegen Intellektuelle, dem zunächst neun Mitarbeiter des Wawilow-Instituts zum Opfer fielen. Wawilow selbst wurde 1941 während einer Sammelreise in den Karpaten verhaftet und zum Tode verurteilt, was später in eine 20jährige Kerkerhaft umgewandelt wurde. Er verstarb 1943 an den Folgen von Unterernährung im Gefängnis von Saratow. Mehrere seiner Kollegen, meist führende Wissenschaftler, wurden nach ihm ebenfalls verhaftet und alle exekutiert.
Die Mitarbeiter des Instituts waren nicht nur Wawilow persönlich ergeben, sondern hielten unerschütterlich an ihrer Mission fest, den Sortenbestand für die Nachwelt zu retten. Während die Sowjets die Evakuierung der Kunstschätze der Eremitage angeordnet hatten, wurden die 250.000 Proben von Samen, Wurzeln und Früchten nicht in Sicherheit gebracht, sondern blieben in der damals größten Genbank der Welt liegen. Einige Wissenschaftler des Instituts verpackten einen Querschnitt der Samen in Kisten und versteckten sie im Keller, um sie zu schützen.
Während der 900-tägigen Blockade von Leningrad (heute wieder St. Petersburg) durch die deutschen Truppen, bei der die Stadt vollständig von allem Nachschub abgeschnitten war, starben mehr als eine Million Zivilisten. Unter größten persönlichen Opfern bewachten die Mitarbeiter das Institut, wo sich Tonnen von Kartoffeln, Getreide, Nüssen und anderen Lebensmitteln befanden, und setzten ihre Arbeit fort. Sie hatten sich verabredet, immer zu zweit zu arbeiten und die nahrhaften Schätze nicht anzurühren. Als im Winter bei minus 40 Grad die Kartoffeln gefährdet waren, verbrannten sie alte Bücher, Holztüren und was sie an Brenn-barem finden konnten, um sie zu bewahren. Sogar als sie selbst bis zu Tode entkräftet waren, rührte niemand eine einzige Nuss oder Kartoffel an. Neun Mitarbeiter starben an Unterernährung, zum Teil während der Arbeit an den nahrhaften Samen. So konnte die einzigartige Sammlung gerettet werden.
In den von der deutschen Armee okkupierten Gebieten, hauptsächlich in der Ukraine und auf der Krim, lagerten Teile von Wawilows Sammlungen. 1943 beschlagnahmte diese eine deutsche SS- Einheit, geführt von Heinz Brücher. Ein Großteil der Samen wurde in das Institut für Pflanzengenetik überführt, das speziell dafür im Schloss Lannach bei Graz in Österreich eingerichtet wurde. Diese Kriegsbeute wurde bis heute offiziell nicht erwähnt oder gar zurückgegeben.
Nach Wawilows Verhaftung wurde Trofim Lyssenko neuer Leiter des Instituts für Angewandte Botanik. Diese Zeit gilt als dunkles Kapitel in der Geschichte des Instituts. Genetik als Wissenschaft wurde verboten und galt durch Lyssenko und den Parteiideologen Prezent als widerlegte, bourgeoise Pseudowissenschaft. Nach der Entkulakisierung, der Tausende von Bauern zum Opfer fielen und wodurch die private Landwirtschaft in der Sowjetunion ausgerottet wurde, kam es immer wieder zu Hungerkatastrophen, nicht zuletzt durch die Unfähigkeit und Misswirtschaft der für die Landwirtschaft Zuständigen. Lyssenkos erfolglose Arbeiten verschärften die Situation als sie zu bessern. Trotzdem hielt Stalin, der sonst so schnell „Gegner des Volkes“ ausmerzte, weiterhin an diesem „Wissenschaftler aus dem Volk“ fest.
Kühlung von Samen in flüssigem Stickstoff
Die Wawilow loyalen Mitarbeiter, die der Verfolgung entgangen waren, konnten sein Werk nur retten, indem sie möglichst unauffällig arbeiteten und die Samen immer wieder regenerierten. Erst unter Chrustschow wurde Lyssenko kritisiert, 1956 musste er die Leitung der Akademie der Agrarwissenschaften abgeben. Als 1962 eine Reihe seiner Arbeiten als Fälschungen entlarvt worden waren, wurde er von Chrustschow entlassen.
1966 vermeldet die TASS, dass am 30. Mai in Moskau eine Gesellschaft für Genetik und Selektion neu gegründet wurde. Von den 80er Jahren an gibt es neue Veröffentlichungen wissenschaftlicher Werke zur Genetik von Mitarbeitern des Wawilow- Instituts. 1983 erhielt das Institut offiziell den Namen N. I . Wawilow Institut für Pflanzengenetische Ressourcen.
Die Unterstützung durch den Staat blieb aber bescheiden. Immer wieder musste man um den Fortbestand bangen. Noch vor wenigen Jahren drohte der Verkauf einer der wichtigsten Außenstationen an reiche Investoren, die dort Luxuswohnungen bauen wollten. Erst der weltweite Protest von Wissenschaftlern und der UNO verhalfen dazu, dass dem Institut alle Ländereien als unkündbares Eigentum überschrieben wurden.
Neuere Entwicklungen deuten darauf hin, dass man in der russischen Politik zunehmend den Wert dieser einmaligen genetischen Ressourcen achtet und ihre Bedeutung für die Sicherung nicht nur der künftigen Ernährung Russlands sondern der ganzen Welt erkennt. So darf man hoffen, dass auch die nötigen Mittel für Erhaltung, Forschung und Weiterentwicklung der Genbank vom Staat ausreichend zur Verfügung gestellt werden.
Das Wawilow-Institut gehört zu den wichtigsten Kulturgütern der Menschheit und sollte eigentlich als Weltkulturerbe der UNESCO anerkannt werden.
Elisabeth Beringer
Veröffentlicht in den Mitteilungen aus der Arbeit des J. Und C. Graf Keyserlingk-Instituts Salem, Heft 27
Die alte Sammlung im Wawilow-Institut