Nikolai Iwanowitsch Wawilow

Nikolai I. Wawilow

 

Nikolai Iwanowitsch Wawilow 

Geboren wurde Nikolai Iwanowitsch Wawilow am  25. November 1887 in Moskau in eine angesehene  Kaufmannsfamilie.  

Der Vater Iwan Iljitsch Wawilow (1), ursprünglich ein einfacher  Bauer aus dem Bezirk Wolokolamsk etwa 150 km von Moskau  entfernt, war noch Analphabet als er nach Moskau zog. Dort bildete er sich selbst, arbeitete sich hoch vom einfachen  Kaufmannsgehilfen, wurde schließlich Fabrikbesitzer und ein  hochgeschätztes Mitglied der Stadtduma. Er liebte Bücher und legte eine wertvolle Bibliothek an, die auch Karten und Herbarien enthielt. Seine Kinder durften diese nach Belieben nutzen. Außerdem erhielten sie Musikunterricht, und es wurde im Haus viel musiziert. Man wohnte in einem Stadtpalais im Zentrum Moskaus.  

Nikolai war das vierte von sieben Kindern, von denen drei schon im Kindesalter starben. Alle genossen eine hervorragende Bildung. Aber obwohl die Fabrik eines der erfolgreichsten Unternehmen Moskaus geworden war, wollte keines der Kinder Nachfolger in der Leitung der Fabrik werden, alle schlugen eine wissenschaftliche Laufbahn ein. Die beiden Schwestern studierten Medizin und wurden Ärztinnen. Der vier Jahre jüngere Bruder Sergej (2) wurde Physiker, machte bedeutende Entdeckungen auf dem Gebiet der Optik, leitete später die Akademie der Naturwissenschaften und war wesentlich am Aufbau des sowjetischen Atomprogramms beteiligt. Der Vater, obwohl enttäuscht, war dennoch stolz auf seine Kinder und förderte sie mit allen Mitteln.  

Im zaristischen Russland gab es immer wieder schreckliche Hungersnöte. Die sozialen Unterschiede waren ungeheuer. Am Zarenhof und auch bei den Bojaren herrschte unermesslicher Reichtum und Prunk. Den Grund, auf dem dieser Wohlstand ruhte, bildete die Schicht der leibeigenen Bauern. Das änderte sich auch nicht wesentlich, als 1861 die Leibeigenschaft abgeschafft wurde. Die Grundbesitzer und Steuereintreiber pressten alles aus dem Volk heraus. Die Felder waren winzig, die Hütten oft nicht mehr als Erdlöcher. In weiten Gebieten  wurde noch mit dem Holzpflug gearbeitet, der nicht selten von den Menschen selbst gezogen oder geschoben wurde und die Erde nur ein wenig „aufkratzte“, wie es in einem Gedicht von Maximilian Woloschin (3) heißt. Durch minimale Erträge und die oft gnadenlose Abgabenlast war Not das tägliche Brot des Bauern. Auf Grund von Missernten, Unwetter, Dürren, Pflanzenkrankheiten gab es in regelmäßigen Abständen große Hungerkatastrophen, denen immer wieder Tausende Menschen zum Opfer fielen.  

Eine solche erlebte der fünfjährige Nikolai im Winter 1891/92 mit. Nach einer schlechten Ernte in der Wolgaregion und im Schwarzerdegebiet folgte ein heißer, trockener Sommer, fünf Monate kein Regen, alles vertrocknete. Dazu kam eine Choleraepidemie, der viele vom Hunger geschwächte Menschen nicht standhalten konnten. Hunderttausende starben. Zwar selbst geschützt sollte dies doch Einfluss auf Nikolai Wawilows ganzes folgendes Leben haben. Später schrieb er in sein Tagebuch, er wolle „für die Armen arbeiten, die  unterdrückte Klasse seines Heimatlandes, und alles tun, ihren Bildungstand zu heben“ (4). 

Er absolvierte die Handelsschule, wo er neben den nötigen Kenntnissen in Naturwissenschaften auch leidlich Französisch, Deutsch und Englisch gelehrt  bekam. Im späteren Leben wird er diese Sprachen nicht nur vervollkommnen, sondern sehr schnell neue dazu lernen. Insgesamt soll er 15 Sprachen und Dialekte beherrscht haben.  

Nach Abschluss seiner Schulzeit beschloss er, Agrarwissenschaften zu studieren mit dem erklärten Ziel, den Hunger in Russland, ja in der ganzen Welt zu besiegen. Sein wichtigster Lehrer war Dimitri Nikolajewitsch Prianischnikow (5). Er war Professor an der Moskauer Landwirtschaftsuniversität. Sein Hauptgebiet war die Steigerung der Bodenfruchtbarkeit durch Naturdünger und  Düngepflanzen. Außerdem richtete er Kurse für  Frauen an der Universität ein, die auch die spätere Ehefrau Wawilows Jekaterina (6) besuchte. Auf seine Anregung hin begann Wawilow, Pflanzenzüchtung zu studieren.  

Wawilow hatte breit gefächerte Interessen, arbeitete und studierte in zahlreichen Labors und begann früh mit eigenen wissenschaftlichen Forschungen am Institut für Zoologie und Entomologie über den Schaden an Winterkulturen und Zierpflanzen durch Nacktschnecken, wofür  er eine Auszeichnung erhielt. Er beendete sein Studium 1910 mit einer Diplomarbeit über Krankheitsresistenz bei Pflanzen. Nach Abschluss der Akademie siedelte er nach St. Petersburg über.  Dort begann er seine Forschertätigkeit im Büro für angewandte Botanik und im Büro für Mykologie und Phytopathologie.  

Der damalige Leiter des Büros für Angewandte Botanik Robert E. Regel (7) hatte den jungen Wissenschaftler zu sich geholt. Er war Spezialist für Gerste und hatte die erste russische Dissertation über angewandte Botanik verfasst zum Thema  Gerste mit glatten Grannen. Insgesamt gibt es von ihm über 100 Veröffentlichungen. Mit nur 53 Jahren starb er 1920 an Typhus.  

1912 heiratete Nikolai Wawilow Jekaterina Nikolajewna Sacharowa. Sie kannten sich aus Studienzeiten und hatten gemeinsam ein Praktikum im Poltawagebiet gemacht. Katja war die Tochter reicher sibirischer Kaufleute und träumte schon  als Kind davon, Agronom zu werden. Zunächst bezog das junge Paar einen Flügel des väterlichen Hauses. Eine Hochzeitsreise gab es nicht. Wawilow  arbeitete täglich bis spät in die Nacht am Institut, und selbst zuhause brannte noch bis in die Morgenstunden Licht in seinem Zimmer. Man sagt, er schlief nur vier Stunden. Ständig war er in Bewegung und immer voller Energie. Als ihn Jahre später der Leningrader Journalist S. M. Schlitzer in einem Interview fragte, wann er Zeit für sein persönliches Leben fände, fragte Wawilow zurück: „Für mein persönliches Leben? Ist die Wissenschaft kein persönliches Leben für mich?“

Doch stets war er gepflegt gekleidet, trug sogar während der Dschungelexpeditionen einen Dreiteiler mit Krawatte. Wawilow war von einnehmendem Wesen, jeder wollte gerne mit ihm zusammenarbeiten. Die Menschen liebten und verehrten ihn.  

1913 gingen Wawilow und seine Frau nach England, wo Nikolai bei dem berühmten Biologen William Bateson (8) in Cambridge arbeitete. Bateson hatte  wesentlich zur Verbreitung der Mendelschen Gesetze beigetragen und den Begriff „Genetik“ für die neue Wissenschaft geprägt. In Merton nahe London säte Wawilow mitgebrachte Proben von Hafer und Gerste aus, an denen er schon in Russland über Pflanzenkrankheiten geforscht hatte. Hier veröffentlichte er zum ersten Mal einen Aufsatz über die erblich bedingte Resistenz (damals sprach man noch von „Immunität“) gegen Pilzkrankheiten in dem von Bateson herausgegebenen Journal of Genetics. Mit dieser Arbeit wurde Wawilow berühmt und gehörte fortan zu den führenden Biologen und Genetikern seiner Zeit. Er stand mitten in den damals heftig geführten Debatten über die Vererbungstheorie,  besuchte Sammlungen, forschte in Darwins eigener Bibliothek und nahm an den Zusammenkünften der Linnean Society of London teil.  

 

Denkmal für Wawilow in Saratow

 

Nach einem Jahr zog das Ehepaar nach Paris, wo Nikolai die Arbeiten der Pflanzenzüchterdynastie de Vilmorin studierte. Den Abschluss der Reise bildete ein Besuch bei Ernst Haeckel (9) in Jena. Der Ausbruch des Ersten Weltkrieges zwang sie, den weiteren Auslandsaufenthalt abzubrechen und nach Russland zurückzukehren. Da Nikolai wegen einer Augenverletzung vom Kriegsdienst befreit war, arbeitete er weiter am Institut für Angewandte Botanik.  

Schon als Student nahm er 1908 an einer ersten Forschungsreise in den Kaukasus teil. Später sollten noch unzählige Reisen folgen, die ihn in 64 Länder  auf allen Kontinenten führten. 1916 unternahm er eine Forschungsreise in den  Iran, das zentralasiatische Ferghanatal und das Hochland von Pamir. Er sammelte eine Fülle von Samen und Pflanzenmaterial. Auf dieser Grundlage  konnte er zwei wichtige Entdeckungen machen. Er formulierte das Gesetz der homologen Reihen. So  gibt es beispielsweise verschiedene Formen der Roten Beete, von abgeflacht über kugelförmig bis walzenartig. Ähnliche phänotypische Reihen lassen sich auch bei anderen Wurzeln finden wie Möhren oder Steckrüben. Oder es gibt Weizenähren mit Grannen verschiedener Art und Länge, gestauchte, lockere, hängende, aufrechte Formen; analog findet man sie bei Dinkel oder Emmer.  

Das zweite Gesetz, das er entdeckte, besagt, dass es Orte gibt, von denen die Verbreitung der Pflanzen ihren Ausgang genommen hat. Sie sind  auch heute noch Zentren der größten Diversität. Wawilow beschrieb acht solcher geografischer Zentren. Mithilfe dieser beiden Gesetze konnte Wawilow nun gezielt nach bestimmten Typen suchen. Das nutzte er bei seinen späteren Sammelreisen. Auch wenn er Formen noch nicht gefunden hatte, wusste er, wo er nach ihnen suchen musste. Auf diese Weise entdeckte er viele bis dahin in  Russland unbekannte Varietäten.  

Als 1917 die Revolution ausbrach, wurde auch die Fabrik seines Vater enteignet. 1918 emigrierte  dieser nach Bulgarien. Wenige Tage danach wurde Nikolais erster Sohn Oleg (10) geboren. Er sollte seinen Großvater erst 1926  kennenlernen, nachdem Nikolai diesen überredet hatte, nach Petersburg zurückzukehren.  

1917 zog Nikolai Wawilow mit seiner Familie in die Stadt Saratow, wo er als Professor an der Landwirtschaftsuniversität lehrte. 1918 veröffentlichte er auch in Russland seine Abhandlung zu erblich bedingten Resistenzen gegen Pilzkrankheiten.  

1920 veranstaltete er in Saratow den ersten Züchterkongress, auf dem er selbst über Homologe Reihen ein Referat hielt. Es  gehört zu den Meilensteinen in der Geschichte der angewandten Botanik und wurde breit und enthusiastisch besprochen. Der  Kongress verabschiedete eine Resolution, in der die Regierung  aufgefordert wurde, die Forschungen auf diesem Gebiet intensiv zu unterstützen.  

Im folgenden Jahr wurde Wawilow zu einem internationalen  Kongress für Landwirtschaft in die USA eingeladen, wo er ebenfalls darüber auf Englisch ein Referat hielt. Der russische  Professor gewann sofort alle Sympathien und wurde von der Presse gefeiert. Im Anschluss konnte er zeitweise im Labor des  berühmten Genetikers Thomas H. Morgan (11) arbeiten. Noch auf der Hinreise hatte er mit der Ausarbeitung dieser seiner Theorie in englischer Sprache begonnen, auf der Rückreise vollendete er sie und reichte sie auf einem Zwischenstopp in England bei Bateson zur Veröffentlichung ein.  

1921 wurde er mit einer Gruppe von Mitarbeitern nach Petersburg eingeladen. Dort richtete er das Institut für Pflanzenbau der Sowjetrepubliken ein. Seine Frau blieb dagegen in Saratow, wo sie eine eigene Anstellung im Bereich der Landwirtschaftsforschung suchte. Sie hatte wohl bemerkt, dass in Wawilows Leben eine neue Liebe getreten war, die Studentin und spätere Doktorandin Jelena Berulina (12). Diese zögerte lange Zeit, Wawilows Gefühle zu erwidern, weil sie dessen Ehe nicht gefährden wollte. Wawilows Frau hingegen war nicht der Mensch, um jeden Preis an einer Ehe festzuhalten und trennte sich 1926 von ihm. Erst danach zog Berulina nach Petersburg und die beiden heirateten. Ein Kollege beschrieb sie als gebildet, ruhig, bescheiden und ihrem Mann äußerst ergeben. 1928 wurde ihr gemeinsamer Sohn Juri (13) geboren.  

Wawilow kümmerte sich zeitlebens gleichermaßen um beide Söhne; den älteren nahm er mehrfach auf seine Reisen mit. – Nach seinem Tod übernahm sein Bruder Sergej die Sorge um die beiden Söhne und ließ ihnen eine Hochschulausbildung zukommen. Beide wurden wie er Physiker.  

Wawilow blieb zeitlebens mit Petersburg verbunden. Er unternahm viele Expeditionen. Jährlich erfolgten Reisen in alle sowjetischen Länder, mehrmals auch nach Süd- und Nordamerika, in die  Mittelmeerländer, nach Deutschland, Afrika, Palästina, Südostasien, Japan, China und Zentralasien. Sie führten ihn immer wieder in gefährliche, ja lebensbedrohliche Situationen. Doch nie schien er Angst zu haben.  

Er sammelte selbst über 200.000 Pflanzenarten, die im Institut systematisch untersucht, katalogisiert und gelagert wurden. Regelmäßig wurden sie auf den Außenstellen ausgesät oder gepflanzt, um sie zu regenerieren. In klimatisch und geographisch unterschiedlichen Regionen des Sowjetreiches waren Dependancen des Instituts gegründet worden.  

Wawilow war durchaus überzeugt, dass auch Umweltbedingungen einen Einfluss auf die Pflanzen haben konnten. Um das zu untersuchen, wurden die gleichen Pflanzen an verschiedenen Außenstellen ausgesät. Doch der genetische Faktor zeigte sich ihm als der bedingende und beständige.  

Von 1922 bis 1935 leitete Wawilow das Institut  für Pflanzenbau (oder experimentelle Agrarwissenschaft). 1930 wurde es in die Allsowjetische Lenin-Akademie für Landwirtschaft umbenannt. Von 1930 bis 1940 war er außerdem Direktor des Instituts für Genetik. Er organisierte nationale und internationale wissenschaftliche Kongresse zu Botanik, Genetik, Pflanzenzüchtung, Ökonomie  und Geschichte der Landwirtschaft. Weltweit  genoss er großes Ansehen, war Mitglied und Leiter der Akademie der Agrarwissenschaften und wurde in viele, auch ausländische wissenschaftliche Gremien berufen. Lenin (14) unterstütze seine Arbeiten.  

Wawilow wurde zur Symbolfigur für die Größe der sowjetischen Wissenschaft in der Welt. Doch genau das sollte ihm zum Verhängnis werden und zu einer der größten Tragödien in der sowjetischen Wissenschaftsgeschichte führen.  

Nach Stalins (15) Machtübernahme 1924 änderte sich zunächst für die Arbeit Wawilows nichts. Bei der gewaltsamen Entkulakisierung von 1929 bis 1933 im Rahmen der Zwangskollektivierung der Landwirtschaft wurden 30.000 Bauern erschossen und über zwei Millionen „umgesiedelt“, meistens nach Sibirien. Die Leitung der Kolchosen wurde Parteigenossen anvertraut, von denen die wenigsten eine Ahnung von Landwirtschaft hatten. Es kam zu ungeheuren Engpässen in der Nahrungsmittelversorgung der Bevölkerung. Die große Hungerkatastrophe von 1932/33 forderte allein im Gebiet der heutigen Ukraine zwischen 5 und 10 Millionen Tote.  

Wawilows Arbeit hatte immer das Ziel, bessere Nahrungspflanzen, vor allem für Brotgetreide zu entwickeln, die ertragreicher und krankheitsresistenter waren als die bisher angebauten. Die in Russland üblichen brachten in der Regel nur einen Bruchteil ausländischer Ernten, selbst in den weltweit fruchtbarsten Gebieten der Schwarzerde. Doch Züchtung durch Selektion braucht seine Zeit; mindestens 10 Jahre Selektionsarbeit sind nötig, um eine Sorte sicher anbieten zu können.  

Dem russischen Züchter Iwan W. Mitschurin war es gelungen, durch Pfropfen über 300 frostresistente Obstsorten zu entwickeln, die auch in Russland  angebaut werden konnten. Er war Anhänger von Lamarcks (16) Evolutionstheorie und glaubte, dass er durch „Erziehung“ die Erbeigenschaften der Obstsorten verändert habe. Der Züchter Trofim Lyssenko (17) übernahm die irrtümliche Theorie Mitschurins und wandte sie auf alle Nutzpflanzen an. Er behauptete, durch Veränderung der Umweltbedingungen und durch Stress neue Pflanzen  gegen den Hunger erzeugen und zum Beispiel Sommergetreide in Wintergetreide verwandeln zu können. Wawilow war offen für alles Neue, das er als Wissenschaftler zu verifizieren versuchte. Er ließ auch zu Lyssenkos Theorie von seinen Mitarbeitern eigene Versuchsreihen durchführen, die allerdings  gegenteilige Ergebnisse brachten und damit Lyssenkos Theorie widerlegten.  

Lyssenko selbst war Bauernsohn und ohne akademische Ausbildung. Seine Person und seine „Umerziehungsversuche“ von Pflanzen gefielen Stalin. Sie  passten in dessen Ideologie vom neuen Sowjetmenschen, den auch er durch „Umerziehungslager“ schaffen wollte. Erblich bedingte Unterschiede durfte es nicht geben – weder beim Menschen noch überhaupt. Die wissenschaftliche Bildung und das weltweite Ansehen des „Bourgeois“ Wawilow waren ihm ein Dorn im Auge. Lyssenko begann, seine eigenen, von der übrigen Wissenschaft der Welt nicht unterstützten Thesen zu predigen, dass man eine neue genetische Vielfalt allein durch Veränderung der Wachstumsbedingungen schaffen  könne. Die Genetik des Westens brandmarkte er als reaktionär und bourgeois. Wawilows Bemühungen, biologische Vielfalt zu sammeln, waren in seinen Augen reine Zeitverschwendung, ja schlimmer noch, er nannte sie ein Komplott des Westens,  um die sowjetische Landwirtschaft zu zerstören. Unterstützt wurde er dabei von dem Philosophen und Parteiideologen Present (18).  

Wawilow lud Lyssenko mehrfach zu Kongressen ein, seine Thesen dort vorzutragen, auch auf internationaler  Ebene. Doch Lyssenko mied jede direkte  Auseinandersetzung auf wissenschaftlicher Basis. Auch 1932 schlug Wawilow ihm vor, an einem  Kongress für Genetik in Ithaka, USA (19) teilzunehmen,  dessen Vizepräsident er selbst war. Doch auch diesmal ignorierte Lyssenko das Angebot. Stattdessen intrigierte er im Hintergrund, was durch heute zugängliche Dokumente belegt ist.  

Der Ithaka-Kongress war ein herausragendes Ereignis der frühen Geschichte der Genetik. Alle damaligen Spitzenwissenschaftler der Welt hatten sich versammelt. Nach dem Kongress wollte Wawilow eine Sammelreise nach Nord- und  Südamerika unternehmen, die seine letzte große Auslandsexpedition werden sollte. Er musste im Vorfeld lange um die Erlaubnis und Finanzierung durch die staatlichen Behörden bitten. Wegen der politischen Situation in Russland war es zudem für ihn überraschend schwierig, überhaupt Visa zu bekommen. Er wurde der Spionage verdächtigt. Später in Chile wurden gerade wegen des enormen  Zulaufs seine Vorlesungen an der Universität abgesagt und man inhaftierte ihn sogar kurzzeitig.  

Die Situation nach seiner Rückkehr wurde immer schwieriger, doch Wawilow wollte oder konnte die Gefahr, die ihm von politischer Seite drohte, nicht richtig einschätzen. Er plante einen eigenen internationalen Genetikerkongress in Russland, von dem er wohl hoffte, die politische Stimmung zu seinen Gunsten zu wenden. Doch trotz Zusagen führender ausländischer Wissenschaftler wurde er  kurzfristig von der Regierung abgesagt.  

1935 bezeichnete Lyssenko in einer Rede auf  einem Bauernkongress unter Anwesenheit Stalins Wawilow und andere sowjetische Biologen öffentlich als „Bauernverderber und Saboteure, die anstatt den Kollektivbauern zu helfen ihr Zerstörungswerk unternehmen sowohl innerhalb der Wissenschaft wie  außerhalb.“ Stalin applaudierte ihm stehend und rief „Bravo, Genosse Lyssenko! Bravo!“ (20) Mit Stalins Unterstützung priesen bald die Landarbeiter,  Staatsdiener und einige wenige Wissenschaftler Lyssenko als den „Mann aus dem Volk“, durch den die sowjetische Landwirtschaft von der Welt beneidet würde.  

Wohl vernetzt und sich der Sympathie Stalins bewusst, griff Lyssenko weiter die Genetiker – und speziell Wawilow an. Doch er argumentierte niemals auf fachlicher Ebene, sondern wandte jede Kritik an seiner Theorie sofort um in eine Kritik am sozialistischen System mit dem angeblichen Ziel, die Entwicklung der UdSSR zu zerstören. Jeder Gegner, der das Deutungsmonopol des Lyssenkoismus anzweifelte, wurde zum persönlichen Gegner Lyssenkos umgemünzt, was schon bald gleichbedeutend wurde mit Staatsfeind. Früher oder  später wurden alle inhaftiert und liquidiert. Selbst Unterstützer Lyssenkos, die zu moderat oder auch zu mächtig waren, teilten das gleiche Schicksal.  

Dennoch fuhr Wawilow mit seinem offenen Widerspruch gegen Lyssenkos Ächtung der Genetik fort, konnte aber nicht verhindern, dass der Lyssenkoismus offiziell als einzige wissenschaftliche Sichtweise anerkannt wurde. In einem seiner letzten Versuche 1939, Lyssenko herauszufordern, rief Wawilow emphatisch: „Wir werden zum Scheiterhaufen gehen, wir werden brennen, aber wir werden nicht von unseren Überzeugungen abweichen.“ (21) In der Folgezeit erwartete er ständig seine Verhaftung, rief seine Frau an, wenn er im Institut  ankam oder es verließ, obwohl es nur ein paar Minuten Fußweg war.  

1940 wurde eine Forschungsreise in die Ukraine genehmigt. Gleichzeitig unterzeichnete Beria (22), Chef der Geheimpolizei, den Verhaftungsbefehl.  Bevor Wawilow aufbrach, versetzte er noch einige junge Wissenschaftler auf Außenstellen in die Provinz, um sie vor Verfolgung zu schützen. Sie waren zunächst verärgert und verstanden diese fürsorgliche Entscheidung erst später. Am 6. August  wurde Wawilow schließlich in den Karpaten von vier Agenten der Geheimpolizei nach Moskau zurückbeordert und heimlich in das Gefängnis des NKWD (23) gebracht. Der Öffentlichkeit wurde die Verhaftung verschwiegen. Sein Bruder Sergej setzte sich sofort für ihn ein. Ebenso sein alter Lehrer  Prianischnikow.  

In den nächsten Wochen fanden nahezu täglich Verhöre durch den berüchtigten Leutnant Chwat statt, in der Regel nachts (24). Wawilow musste dabei viele Stunden ohne Pause stehen. Man wollte ihm ein Geständnis wegen Spionage, Sabotage und antisowjetischer Tätigkeit abpressen. Zunächst widerstand er standhaft, doch zwei Wochen später nach einem zehnstündigen Verhör „gestand“ er, einer fiktiven reaktionären Gruppe zur Wiedereinführung eines freien Bauerntums anzugehören, Sabotage verneinte er weiterhin. Gefragt nach  Verbindungsleuten nannte er eine Reihe führender Köpfe der sowjetischen Landwirtschaft, die entweder verhaftet oder schon hingerichtet waren.

Auch die folgenden Monate waren ebenso erniedrigend wie grausam. Wawilow versuchte Zeit zu gewinnen, als man noch mehr Namen von ihm verlangte, wohl in der Hoffnung, dass andere führende Genetiker sich vielleicht retten konnten. Ob er selbst tatsächlich drei seiner engsten Mitarbeiter genannt hat oder ob die Verhörprotokolle, die das besagen, gefälscht waren, lässt sich schwerlich klären.

Die Kollegen wurden verhaftet und ihm gegenübergestellt. Sie bekannten „ihre Schuld“. Wawilow erfuhr nie, dass alle drei unmittelbar danach exekutiert wurden. Die Einzelheiten der gesamten Vernehmungen kann man anhand der heute veröffentlichten Protokolle nachvollziehen. In welchem Umfang sie verfälscht wurden, ist immer noch Gegenstand historischer Forschung.  

 

Nach der Verhaftung

 

Am 9. Juli 1941 verurteilte ein Militärtribunal des Obersten Gerichts Wawilow in weniger als fünf Minuten wegen Spionage und Volksverrat zum Tode, ohne Möglichkeit zum Widerspruch. Die Exekution wurde auf den 28. Juli festgesetzt.  Noch am selben Abend schrieb Wawilow an das Präsidium des Obersten Gerichtes ein Gesuch um Begnadigung und der Möglichkeit zur Wiedergutmachung. Mit Dankbarkeit wolle er jede geringste Arbeit annehmen zum Wohle der sozialistischen Landwirtschaft seines Vaterlandes. Das Gesuch  wurde abgelehnt und er wurde in den Todestrakt des Butyrskajagefängnisses verlegt. Dort schrieb er ein ähnlich lautendes Gesuch an Beria selbst.  

In den nächsten Monaten besuchte ihn zweimal eine Kommission Berias. Anfang Oktober versprach man ihm, in den nächsten Tagen wegen seiner Weiterarbeit etwas zu unternehmen. Doch drei Stunden später vernichtete der Krieg alles. Die deutschen Truppen standen vor Moskau, Tausende politischer Gefangene wurden auf entwürdigende Art in Züge Richtung Osten verfrachtet, dem öffentlichen Hass als Volksfeinde ausgesetzt. Wawilows Bestimmung war Orenburg, doch wegen deutscher Luftangriffe fuhr der Zug nach Saratow. 15 Fußminuten von seinem Gefängnis entfernt lebten damals auch seine Frau  Jelena und der Sohn Juri – und keiner wusste vom anderen.  

Wawilow berief sich bei der Gefängnisleitung auf die Zusagen Berias, doch dort wusste man von nichts. Auf zwei weitere Briefe an Beria erhielt er keine Antwort.

Während seiner Moskauer Haftzeit schrieb Wawilow ein Buch über „Die Geschichte der Landwirtschaft in der Welt“ mit Schwerpunkt auf die UdSSR. Vor seiner Haft hatte er mehrere Bücher über Züchtung, Pflanzenkrankheiten und seine Expeditionen verfasst. Nahezu sein gesamtes Werk wurde vernichtet.  

Der einst immer elegant gekleidete Wawilow war jetzt verdreckt, mit zottigem Haar und Bart. Er trug wie alle Todeskandidaten einen Sack mit Löchern für Kopf und Arme und Schuhe aus Rinde. 

 

Denkmal für Wawilow in Saratow

 

Im Ausland wusste man nichts von Wawilows Verbleib. Im April 1942 wurde Wawilow zum Ehrenmitglied der britischen Royal Society der Akademie der Wissenschaften ernannt. Man zwang seinen Bruder Sergej, die Ernennungsurkunde zu unterschreiben, der britische Diplomat, dem man sie übergab, ließ sich nicht täuschen und es kam zu einem politischen Skandal.

Auch  sein hoch angesehener Lehrer Prianischnikow setzte sich unermüdlich für seine Freilassung ein und schlug ihn sogar für den Stalin Preis vor, was für jeden anderen Verhaftung bedeutet hätte. Doch er war ein enger Freund von Berias Ehefrau. Beides zusammen bewirkte, dass die Todesstrafe am 4. Juli 1942 schließlich in eine 20jährige Haft umgewandelt wurde. Wawilow wurde vom  Todestrakt in eine allgemeine Zelle verbracht, hatte Hofgang und durfte sogar regelmäßig baden. Er teilte seine Zelle mit einem Historiker und einem „bourgeoisen“ Sohn eines Kupferfabrikanten. Lautes Sprechen war verboten, doch um sich nicht aufzugeben, hielten sie auf Wawilows Anregung flüsternd Vorträge über ihre jeweiligen Wissensgebiete.  

Am 24. Januar 1943 wurde Wawilow mit Fieber in das Gefängniskrankenhaus verlegt. Gefängnisärzte diagnostizierten eine allgemeine Erschöpfung und  Dystrophie wegen dauernder Mangelernährung.  Am Morgen des 26. Januar wurde Nikolai Iwanowitsch Wawilow von seinen Leiden erlöst.  

Im Rahmen der Entstalinisierung wurde 1955 das Todesurteil gegen Wawilow vom Militärgericht des  Obersten Gerichtshofes aufgehoben und 1960 wurde er vollständig rehabilitiert (25). 1968 erhielt das Petersburger Institut für Angewandte Botanik den Namen Wawilow Institut, genau: N. I. Wawilow Institut für Pflanzengenetische Ressourcen.  

 

 

Die englische Umschreibung des russischen Namens lautet Vavilov.

 

1  Iwan Iljitsch Wawilow 1863-1928, Fabrikant

2  Sergei Iwanowitsch Wawilow, 1891-1951, russischer Physiker

3  Maximilian Alexandrowitsch Woloschin, 1877 - 1932, russischer Maler und Dichter, aus: Die Pfade Kains, Pforte Vlg., Dornach

4  Nikolai I. Wawilow, Tagebuch

5  Dimitri Nikolajewitsch Prianischnikow. 1865 - 1948, Pflanzenphysiologe, Chemiker

6  Jekaterina Nikolajewna Sacharowa, genannt Katja, 1886 - 1964, erste Ehefrau Wawilows

7  Robert Eduardowitsch Regel, 1867-1920, russischer Botaniker, Begründer der angewandten Botanik

8  William Bateson, 1861 - 1926, englischer Genetiker, prägte den Begriff ‚Genetik‘

9  Ernst Heinrich Philipp August Haeckel, 1834 - 1919, deutscher Mediziner, Zoologe, Darwinist

10  Oleg Nikolajewitsch Wawilow

11 Thomas Hunt Morgan, 1866-1945, US-amerikanischer Zoologe und Genetiker, Entdecker der Struktur der Chromosomen

12  Jelena Iwanowna Berulina, genannt Lena, 1895-1957, zweite Ehefrau Wawilows

13  Juri Nikolajewitsch Wawilow, 1928-2018, russischer Physiker

14  Lenin, eigentlich Wladimir Iljitsch Uljanow, 1870-1924

15 Josef Wissarionowitsch Stalin, 1878-1953

16 Jean-Babtiste Pierre Antoine de Monet, Chevalier de Lamarck, 1744 - 1829, französischer Botaniker, Zoologe und Entwicklungsbiologe

17 Trofim Denissowitsch Lyssenko, 1898 - 1976, sowjetischer Züchter 1927 erschien ein Artikel in der Prawda von dem Journalisten W. Fedorowitsch, worin er über Lyssenko schrieb: „Lyssenko vermittelt einem das Gefühl von Kopfschmerz; Gott gebe ihm Gesundheit, er hat eine niedergedrückte Miene. Er ist geizig mit Worten und sein Gesicht wirkt unbedeutend; alles, an das man sich erinnert, ist sein mürrischer Blick, der über die Erde kriecht, als wolle er jemanden dort einscharren.“ Dann fährt er fort, Lyssenkos unbedeutendes Äußeres zu kontrastieren mit seinem Aufstieg von einem Bauern, der sich selbst zu einem vollendeten Wissenschaftler ausgebildet habe und endet mit den Worten: „Der Barfußprofessor Lyssenko hat heute Anhänger, Schüler und experimentelle Felder. Er wird sogar im Winter von Leuchten der Agrarwissenschaften besucht, die vor den grünen Feldern seiner Versuchsstation stehend ihm dankbar die Hand schütteln.“

18  Isaak Israelewitsch Present, 1902-1969, sowjetischer Parteiideologe, Schlüsselfigur zur Durchsetzung des Lyssenkoismus

19  Ithaka-Kongress für Genetik 1932:

Aus USA kamen Thomas H. Morgan, H. Muller mit seinen Forschern; aus Deutschland R. Goldschmidt mit jungen Wissenschaftlern; aus Großbritannien John B. S. Haldane, Cyril D. Darlington, Ronald E. Fisher; aus Frankreich Elisa und Henry de Vilmorin; dazu Wissenschaftler aus Dänemark, Belgien, der Schweiz, Spanien, Italien, Kanada, Polen und nicht zuletzt Sidney C. Harland aus Trinidad.

20  Aus: The Vavilov-Lyssenko Contention, https://www.youtube.com/watch?v=eDteTc9aEKQ

21  Medwedjew, Rise and Fall, zitiert in Peter Pringle, The murder of

Nikolai Vavilov, London 2009

22  Lawrenti Beria, 1899-1953, Chef der sowjetischen Geheimdienste, Schlüsselfigur des Stalinterrors

23  Ministerium für innere Angelegenheiten, dem die Geheimpolizei und die Arbeitslager unterstanden

24  Während seiner Haftzeit waren es laut Protokolle insgesamt über 400 Verhöre von etwa 1.700 Stunden

25  Auch sein Sohn Juri setzte sich unermüdlich für die Wahrheitsfindung über die Verfolgung seines Vaters ein, besonders über die Zeit der Verhöre, der „Geständnisse“ und des vermeintlichen „Verrats“

 

Eine vollständige Liste der dem Artikel zugrundeliegenden Literatur findet sich hier.

Das Buch:

Rudolf Steiner

Leben - Gedankenwelt - Impulse

 

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Das Buch ist neben deutsch auch auf russisch und ukrainisch erschienen.

Die Bücher kosten jeweils 18,00 € und können gerne bestellt werden über:

das Kontaktformular

oder über info@elisabeth-beringer.de.

 

Die Ausstellung:

Rudolf Steiner - Leben und Werk

in 18 großen Tafeln 

zum Ausleihen oder als Druckvorlage zum Download

 

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Die Ausstellung wurde in zahlreiche Sprachen übersetzt, Ansichtstafeln findet man hier.

Sie kann entweder in den jeweiligen Ländern ausgeliehen werden oder steht als Download zur Verfügung. Anfragen bitte über das Kontaktformular